Krisen haben einen unwiderstehlichen Nebeneffekt: Sie lösen alte, überflüssige Phänomene auf und schaffen neue Möglichkeitsräume. So etwas erleben wir jetzt auch gerade. Zukunftsforscher wie Matthias Horx sprechen in solchen Fällen von einer „Tiefenkrise“ – und die birgt Chancen. Die Welt, so wie wir sie kennen, löst sich auf. Und plötzlich geht, was vorher nicht ging: Homeoffice ist eine Selbstverständlichkeit, dadurch ist mehr Zeit für Familie und Natur. Soziale Verhaltensformen ändern sich. Wir sprechen wieder mehr miteinander, sind höflicher und mehr füreinander da. Und: Alte Kulturtechniken werden wiederbelebt. Wie das Sammeln von essbaren Wildpflanzen zum Beispiel. Was unsere Vorfahren praktizierten, kann auch heute unser Immunsystem ganz schnell nach vorne bringen. Die Autorin Elvira Birgit Speer hat darüber mit dem Wildpflanzenexperten und Autor zahlreicher Bücher, Dr. Markus Strauss, gesprochen.
Dies ist ein Audio-Beitrag, der am 21.03.2020 bei MDR Kultur gesendet wurde. Aus rechtlichen Gründen hier nicht das Audio, sondern nur das Manuskript.
Gerade beginnt auf Feld und Wiese die Hochsaison für Essbare Wildpflanzen – überall schießen die Kräuter aus dem Boden. Viele davon strotzen nur so vor Vitalstoffen.
O-Ton 1: „Der Bärlauch wächst, der ist gerade fürs Immunsystem ein richtiger Durchputzer mit seinen Scharfstoffen, die ja antibakteriell und antiviral wirken. Der kann den ganzen Stoffwechsel insgesamt aus dem Wintermodus ins volle Leben bringen. Aber natürlich auch der Löwenzahn. Auf jeder normalen Wiese oder auch im Rasen haben wir den, weil der schöne Bitterstoffe enthält. Also geschmacklich sehr interessante Aromen für den Salat. Aber natürlich fördern die Bitterstoffe auch die Entgiftungsorgane. Das ist für die Stabilität des Gesamtorganismus sehr wichtig und sehr hilfreich. Dann kommen die Brennnesseln raus. Die sind ganz wichtig und ganz kraftvoll jetzt. Wie alles, was zu Beginn wächst kraftvoller ist als sonst im Jahr.“
Wildpflanzenexperte Dr. Markus Strauss isst selbst jeden Tag etwas Wildes aus der Natur. Gerade die Brennnessel schätzt er sehr, denn sie ist eine echte Vitamin C-Bombe. Pro 100 g Frischpflanze enthält sie 300 mg davon. Weswegen sie bei ihm morgens oft in den Smoothie wandert. Sie gibt aber auch ein gutes Wildgemüse ab.
O-Ton 2: „Das kann man zubereiten wie einen Spinat. Das geht wirklich kinderleicht. Eine Zwiebel anbraten und dann die kleinen Triebspitzen da rein. Mit Salz, Pfeffer, Knoblauch oder Muskat ein bisschen abschmecken. Wer will ein bisschen Sahne rein – fertig ist es. Das ist wirklich in fünf Minuten fertig und schmeckt köstlich“
In seinem jüngst erschienenen Buch „Die Wildpflanzen-Apotheke“ macht Markus Strauss Appetit auf Giersch, Wiesenklee, Brunnenkresse, Schlehe oder Wildrosen. Seine Rezepte sind einfach gehalten und damit alltagstauglich. Wie wärs als Vorspeise mit pikantem Bruschetta mit Giersch, danach würzige Pasta mit Löwenzahn-Pesto und schließlich ein heilsames Kleeblüten-Dessert?
Das Buch liefert Hintergrundinfos, wo man am besten auf Streifzug geht, wie man Verwechslungen vermeidet und was wirklich drin steckt an Vitalstoffen. Glaubt man Dr. Strauss, sind Wildpflanzen den Kulturpflanzen um Längen voraus.
O-Ton 3: „Eine Wildpflanze, das sagt ja das Wort, die ist wild. D.h. da hilft kein Bauer, kein Gärtner. Die muss sich völlig auf sich gestellt durchs Leben schlagen und da braucht sie spezielle Kräfte dazu. Also sie braucht ganz tolle Abwehrkräfte gegen Frass-Feinde, das sind z.B. Bitterstoffe und Gerbstoffe. Sie braucht gegen starke UV-Strahlung – wie jetzt in diesen ersten Frühlingstagen oder im Sommer – da braucht sie ganz viele Anthocyane, die die freien Radikale auffangen, oder die Carotinoide. Und diese Stoffe, die übertragen diese Urkraft auf uns, wenn wir das essen. Das ist einfach eine Riesenchance.“
Wohingegen die Kulturpflanze vor allem gut aussehen und lange halten muss. Gesund muss das Supermarkt-Gemüse nämlich nicht unbedingt sein. So hat man ganze Stoffgruppen einfach weggezüchtet, wie etwa die Bitterstoffe, die eigentlich essentiell für unsere Entgiftungsorgane sind – eine fatale Entwicklung für unser Immunsystem. Die Nahrungsmittelindustrie verdient doppelt, denn anschließend verkauft sie uns diese weggezüchteten Stoffe als notwendige Nahrungsergänzungsmittel.
Es geht also los mit dem Körbchen in der Hand. Zwei Mal Wildes sammeln pro Woche reicht schon aus.
O-Ton 4: „Und wenn man das dann mit kaltem Wasser abwäscht und in eine Vorratsbox macht und in den Kühlschrank stellt, dann sind die Pflanzen durchaus ein paar Tage haltbar.
Laut Dr. Markus Strauss zeigt die kulturhistorische Betrachtung, dass sich die Menschheit vor Einführung der Landwirtschaft sehr erfolgreich von Wildgemüse ernährt habe – dies sei quasi unsere artgerechte Nahrung. Nicht hochgezüchtet, nicht verarbeitet, ohne Dünger oder Zusatzstoffe – von Nano-Plastik ganz zu schweigen. Wildpflanzen, so sagt der Biologe, sind unsere Chance, in Zeiten wie diesen das Immunsystem so richtig hochzufahren.
O-Ton 5: „Und da plädiere ich wirklich für eine Rückbesinnung auf ganz tolle Kulturtraditionen, die uns ja über Jahrmillionen gut ernährt haben. Und dass man die in den heutigen Alltag reintegriert“
Gerade in den Frühlingsmonaten können wir hier so richtig aus dem Vollen schöpfen. Nebenbei bekommen wir noch etwas Sonne ab und damit Vitamin D und: Lebensfreude!
Infos zum Buch:
Dr. Markus Strauß
Die Wildpflanzen-Apotheke. Essbare Pflanzen, die nähren und heilen.
Knaur Menssana, München 2020. 205 Seiten.